Jannis Milios: Eine zufällige Begegnung in Venedig
Wie ist der #Kapitalismus entstanden? Wann und wo? Und warum? Dieser Frage widmet sich Jannis Milios in seinem Buch “Eine zufällige Begegnung in Venedig. Die Entstehung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem.” Schon im Titel wird klar, wie Milios die Frage beantwortet. In #Venedig des 14. Jahrhunderts sei der Kapitalismus entstanden, und zwar durch das zufällige Aufeinandertreffen doppelt freier Arbeiter (frei von Kapital und “frei” ihre Arbeitskraft zu verkaufen) mit Geldbesitzern.
Die im Dietz-Verlag erschienene Studie ist sehr gut lesbar, die zentralen Thesen bringt der Autor kompakt auf den Punkt. Daher ist die Lektüre auch historisch interessierten Nicht-Akademikern, wie ich einer bin, zu empfehlen. Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit Theorie, im zweiten Teil werden die theoretischen Prämissen schließlich auf den Stadtstaat Venedig angewandt.
Was ist Kapitalismus?
Wer untersuchen will wie der Kapitalismus entstanden ist muss natürlich zunächst einmal klären was unter Kapitalismus genauer zu verstehen ist. Zentral für Milios ist hier Lenin, der sich im Streit mit den Narodniki mit Frühformen des Kapitalismus und der Lohnarbeit beschäftigt, sowie die theoretischen Arbeiten Karl Kautskys zur Agrarfrage und Kapitalismus. Dazu weist der Autor diverse Formen marxistischen Geschichtsdeterminismus zurück und macht sich die aleatorische (zufällige) Begegnung (Althusser/Balibar) zu eigen.
Das wars dann auch schon mit positiven theoretischen Bezügen, der Rest der Forschung zur Genese des kapitalistischen Systems kanzelt Milios mal mehr mal weniger harsch ab.
Handel, Politik, Krieg, Manufakturwesen und Finanzwesen in Venedig
Leider fällt der zweite Teil des Buches, der sich konkret mit der Entwicklung Venedigs beschäftigt, für meinen Geschmack etwas kurz aus. Das ist schade, werden hier doch sehr interessante Entwicklungen behandelt und so mancher hartnäckige Mythos, wie der vom genialen Unternehmertum, anschaulich widerlegt. Andererseits lädt der Anmerkungsapparat und die Quellenliste zur Vertiefung ein, Milios kann hier als Einstieg genutzt werden, an weiterführender Literatur über den faszinierenden Stadtstaat herrscht wahrlich kein Mangel.
Interessant und ärgerlich zugleich
Wie bereits lobend erwähnt ist das Buch gut lesbar und eröffnete mir zahlreiche neue Erkenntnisse, gerade auch im theoretischen Teil. Die Agrarfrage und der Kapitalismus ist nicht nur unter historischen Gesichtspunkten eine wichtige Frage, sondern berührt mit Sicherheit auch unsere Gegenwart. Möglicherweise sollten wir Lenins Polemik gegen die Narodniki wieder aufmerksam lesen, wenn wir uns mit Thesen befassen, die in gemeinschaftlichen, agrarischen Projekten den Keim einer Überwindung des Kapitalismus finden wollen. Und selbstverständlich bleibt richtig, dass wer seine Gegenwart verstehen will seine Geschichte kennen muss. Zu dieser Kenntnis trägt Milios bei.
Allerdings sollte das Buch mit einem kritischen Blick gelesen werden, mir scheint der Autor macht es sich immer wieder reichlich leicht. So ist das kurze Kapitel zur Weltsystemtheorie irgendwo zwischen ärgerlich und lächerlich anzusiedeln. Auffällig auch, dass bei Milios sämtliche Historiker sehr schlecht weg kommen. Nach Lenin und Kautzky scheinen sich nur noch Idioten mit der #Geschichte befasst zu haben. Diese Überheblichkeit nervt beim Lesen und ist sicherlich unangemessen.